Die Eisenbahn in Lichtenberg
(GISBERT BOBBERT, HANS-JÜRGEN BEHREND, HORST SPLITT aus dem
Buch "LICHTENBERG; die Geschichte eines braunschweiger Dorfes von seinen Anfängen bis heute) Auszug.

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Der Lichtenberger Bahnhof
99 Jahre dauern manche Pachtverträge.  Von Einzelpersonen ist ihr Ende nicht erlebbar, weshalb man meist von Erbpacht spricht. Auch das ruhmlose Ende des Eisenbahnzeitalters von Lichtenberg mußten die Zeitgenossen, die es an seinem Anfang so enthusiastisch begrüßt hatten, - gottlob - nicht mehr erleben.  Dabei währte es nicht einmal ganz 99 Jahre. Zugverkehr gab es genau 97 Jahre und zehneinhalb Monate, vom 18.  Juli 1886 bis zum 1. Juni 1984. Die Gleise allerdings schafften es, rund 99 Jahre liegen zu bleiben.
 
Während sich d bahnhofer Wert eines in Erbpacht genutzten Objektes fast immer innerhalb seiner Laufzeit steigert, verfiel der der Eisenbahn in und für Lichten- berg in den drei Generationen ihres Be- stehens mehr und mehr. Als die Bahn- linie 1886 mit großen Erwartungen eröff- net wurde, erfüllten sich die bei der Pla- nung daran geknüpften Hoffnungen in hohem Maße.  Aber nach dem Ersten Weltkrieg, also nach einem Drittel der Lebensdauer, kam mit der allmählich beginnenden Motorisierung von Wirt- schaft und Bevölkerung der Anfang vom Ende.  Und nach Ablauf des zweiten Drittels, als die Not der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg der Bahn nochmals einen vorübergehenden Aufschwung gebracht hatte, zeichnete sich das endgültige Aus bereits deutlich ab. Im Personenverkehr gab es zum Schluß nur noch Fahrgäste, die mit verbilligten Sozialtarifen oder völlig gratis fuhren.  Voll zahlende Anschlußreisende, die zu entfernten Zielen fuhren, oder von dorther kamen, waren die Ausnahme.

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Die Anfänge
Den offiziellen Anstoß für den Bau der Sekundärbahn Braunschweig - Barum - Lichtenberg - Derneburg - Seesen gab der Abgeordnete Baron von Cramm mit seinem am 22. April 1882 in der Braunschweigischen Landesversammlung eingebrachten Antrag, "die
eisenbahLandesversamm- lung wolle beschlie- ßen, an das Herzog- liche Staatsministe- rium das Ersuchen zu richten, in Erwä- gung zu ziehen, ob nicht der Zeitpunkt gekommen sei, auf den Bau von Local- bahnen in denjeni- gen Theilen des Landes Bedacht zu nehmen, in welchen durch dieselben ein bedeutender Auf- schwung des Ve- rkehrs zu erwarten ist, diese Frage aber in Bezug auf den Harzdistrict, der, wie die Verhandlungen er- geben haben, be- sonders der Hilfe bedarf, um nicht wirtschaftlich mehr und mehr zurückzu- gehen, sofort einer wohlwollenden Prü- fung zu unterziehen."

Den Verlauf der Verhandlungen, in die auch das Land Preußen wegen der Überquerung königlich-Preußischen Hoheitsgebietes bei Derneburg einzubeziehen war, wollen wir hier übergehen, doch sollte die Weitsicht der Verantwortlichen besonders hervorgehoben werden. Sie bestand darin, eine Bahn mit Normalspur zu bauen, im Gegensatz zu den vielen schmalspurigen Sekundärbahnen, die zur gleichen Zeit im Deutschen Reich entstanden. Schon vier Jahre später, im Frühsommer 1886 war der erste Abschnitt der neuen Bahn, die 39,8 km lange Strecke Braunschweig-Nord - Derneburg baulich fertiggestellt. Bedenkt man, daß allein die Planung der Trasse der fast parallel verlaufenden Autobahn ein Jahrhundert später ein Vielfaches der damals für Planung und Bau verbrauchten Zeitspanne erforderte, ermißt man erst die richtige Hochachtung vor der Effizienz der damaligen Bürokratie, die ungeachtet der komplizierten Ausdrucksweise (s. der obige Wortlaut des Antrages) schnell und konsequent handelte.

Anfang Juli 1886 erfolgten die ersten Probefahrten auf dem soeben fertiggestellten Teil der Strecke Braunschweig-Derneburg, wobei die Bewährung der Brücke über den Mühlgraben zwischen Grasdorf und Derneburg offenbar das Hauptinteresse fand, wenn man den Journalisten, auf deren Zeugnis wir hier angewiesen sind, Glauben schenken darf.

Am 16. Juli 1886 fuhr der Sonderzug mit 80 Ehrengästen, an ihrer Spitze der braunschweigische Staatsminister Graf Görtz-Wrisberg, darunter aber auch die aus Frankfurt/M. herbeigeeilten Finanzdirektoren der Braunschweigischen Landeseisenbahn, Sulzbacher und Baron von Erlanger, von Braunschweig nach Derneburg und zurück. An jedem der neuen Bahnhöfe, so auch in Lichtenberg oder Burgdorf (später in Osterlinde umbenannt), wurde der Zug von der Bevölkerung begeistert, ja stürmisch begrüßt. Jedes Mal gab es einen längeren Aufenthalt, und die einheimischen Honoratioren konnten den Zug besichtigen. In einem angehängten, als Speisewagen umfunktionierten Güterwagen wurden sogar Erfrischungen gereicht, obwohl das Wetter eher regnerisch und kühl war. Nach einem Festbankett in dem für diesen Zweck hergerichteten Lokomotivschuppen in Derneburg mit schönen, klugen und auch - wie ausdrücklich überliefert wurde - witzigen Reden und den üblichen Hoch-Rufen auf Seine Majestät ging die Fahrt am Abend zurück.

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Inbetriebnahmen
Trotz des miserablen Wetters - zeitweise regnete es in Strömen - kann man den 16. und 18, Juli 1886, an dem der fahrplanmäßige Verkehr aufgenommen wurde, als Meilensteine für die Entwicklung der ganzen Region ansehen. Nicht nur die Wirtschaft profitierte davon. Neudeutsch ausgedruckt kann man dieses Datum als den Anfang einer deutlich erhöhten Lebensqualität für alt und jung, arm und reich bezeichnen. Unter anderem wurden die Lichtenberge als Naherholungsgebiet für Braunschweig entdeckt und erschlossen, und die Einheimischen konnten leicht und schnell in die Landeshauptstadt reisen, sei es zu Geschäften, zum Behördengang oder zu Konzert und Theater.

Wieviel Züge für Personen- und Güterverkehr in der Anfangszeit die neue Strecke befuhren, war nicht mehr eindeutig zu ermitteln. In den ersten Wochen nach der Eröffnung verkehrten täglich vier Zugpaare für die Reisenden, aber noch keine separaten Güterzüge. Alsbald müssen es aber viel mehr gewesen sein, denn der Verkehr wurde bald recht rege. Schließlich gab es zur damaligen Zeit praktisch keine Alternative für eine schnelle und dabei preiswerte Beförderung von Personen und Waren.

Nach Tarif waren in der 3. Klasse 3,3 Pfennige je km und in der 2. Klasse 6,2 zu zahlen, vergleichsweise viel, wenn man die allgemeine Preisentwicklung in den letzten 100 Jahren bedenkt, aber wenig, wenn man den Aufwand an Zeit und Geld für die herkömmlichen Kutschen damit vergleicht.

Im Jahre 1927, also zur Zeit einer wirtschaftlichen Hochkonjunktur, verfügte die Braunschweigische Landeseisenbahn auf ihrem auf 108 km angewachsenen Streckennetz über 28 Lokomotiven, 60 Reisezug- und 800 Güterwagen. Von den insgesamt 700 Bediensteten arbeiteten allein 150 in dem bahneigenen Ausbesserungswerk in Braunschweig. Der Bahnhof Lichtenberg verfügte bis zum Jahre 1953 nur über ein kurzes Ladegleis zum Ent- und Beladen der Waggons, während im benachbarten Bahnhof Osterlinde-Burgdorf vier größere Unternehmen durch werkseigene Anschlußgleise mit der Bahn verbunden waren, darunter die 20 Jahre vor Eröffnung der Bahn gegründete Zuckerfabrik.

Für Lichtenberg spielte die Bahn, wie erwähnt, noch eine Sonderrolle. Schon bei der Planung der Trasse hatte man berücksichtigt, daß Ausflügler aus der Umgebung, vor allem aus Braunschweig, leicht an den Lichtenberger Höhenzug herangebracht werden sollten. Der Bahnhof wurde - wohl nur aus diesem Grunde - erheblich näher an den Ort gerückt als ursprünglich beabsichtigt. Die dadurch bedingte Steigung der Bahntrasse zwischen Salder und Lichtenberg um 15 Höhenmeter wurde bewußt, aber vielleicht auch mit dem Mut der Unwissenheit in Kauf genommen. Das führte nämlich dazu, daß die Lokomotiven der Güterzüge ihre liebe Not hatten, die Strecke zu bewältigen. Die Rübenzüge wurden kurzerhand in Salder geteilt und in zwei Teilen nacheinander nach Osterlinde gebracht. Ertönte aber das heisere Schnaufen der Lokomotive eines ungeteilten Zuges von der "Bergstrecke" nach Lichtenberg herauf, ahmten die Dorfkinder das stöhnende Ächzen lautmalend nach mit skandierendem Ruf "so-helft-mir-doch-so-helft-mir-doch!"

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Reichsbahn
Die Streckenführung an den Höhenzug heran zahlte sich aus, denn der Erfolg stellte sich schon bald ein. Sonntags verkehrten besondere Ausflüglerzüge zwischen Braunschweig und Lichtenberg. Am Bahnhof angekommen ergossen sich die Wanderer und Spaziergänger wie ein Heerwurm in den Ort mit seinen Gasthäusern Zollhaus, Amtskrug, Linde und Kurhaus. Wer dort nicht hängen blieb und die zu jeder Jahreszeit herrlichen Wälder des Höhenzuges erreichte, konnte auch dort für sein leibliches Wohl sorgen. Lange vor dem Bau der heutigen Burgberggaststätte gab es auf dem Burgberg schon eine einfache Waldschenke.

Im Jahre 1938 ging die Braunschweigische Landeseisenbahn, und damit auch der Bahnhof Lichtenberg, in der Deutschen Reichsbahn auf. Durch den Bau der Reichswerke änderten sich in jenen Jahren die Verkehrsbedürfnisse entscheidend. Das heute so benannte Salzgitter-Gebiet entstand damals. Aus einer rein ländlichen Region wurde ein hoch industrialisierter Ballungsraum. Die Bevölkerungszahl der vorwiegend betroffenen Orte, allen voran Lebenstedt, vervielfältigte sich sprunghaft. Und die Bahn plante den Neubau von Anbindungs- und Verbindungsstrecken. Der kurz danach ausbrechende Zweite Weltkrieg verhinderte allerdings fast alles und ließ die schönen Pläne wie Luftschlösser zerplatzen. Es kam gerade noch zum Bau einer Abzweigung von Immendorf nach Drütte, die Anfang des Krieges ohne viel Pomp in Betrieb genommen wurde. Jahre später, erst 1954, wurde die Strecke bis Lebenstedt und ein kleines Stück darüber hinaus verlängert. Kurz vor Lichtenberg mündete die neue Linie in die alte, von Salder kommende Trasse. Der Streckenabschnitt von Barum über Salder wurde dadurch überflüssig, stillgelegt und demontiert. Nur die "Bahnhofstraße" in Salder erinnerte noch bis vor kurzem daran, daß dort früher Eisenbahnräder vorbei rollten.

Für Lichtenberg und seinen Bahnhof brachten diese neuen Entwicklungen wenig Änderung. Zwar erhielt der Bahnhof ein weiteres Gleis für den Reisezugverkehr, um das Begegnen von Zügen entgegengesetzter Fahrtrichtung zu ermöglichen, auch wurden Signalanlagen und Weichen nebst Stellwerk erneuert und modernisiert, aber das Verkehrsaufkommen wuchs nicht sonderlich. Die Einwohnerzahl von Lichtenberg war im Gegensatz zu Lebenstedt, Gebhardshagen und anderen Salzgitter-Stadtteilen nicht sehr gewachsen, und die Motorisierung der potentiellen Reisenden nahm - wie überall - stetig zu. Laut Fahrplan von 1949 hielten in Lichtenberg täglich sieben Zugpaare, davon drei nur werktags. 1959 waren es in der Woche nur noch fünf, am Sonntag gar nur drei. 1982 schrumpfte die Bedienung auf werktags drei Zugpaare, während der Bahnhof am Wochenende völlig stillag. Das blieb dann so bis zum schon erwähnten Ende am 1. Juni 1984.


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Güterverkehr

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Hatte der Güterverkehr am Ende des vorigen Jahr- hunderts für den Land- handel, für die Zuckerindu- strie und die Branche der "Steine und Erden" sowie für Stück-, Eil- oder Expreß- gut noch eine größere Wichtigkeit als die Beför- derung von Reisenden, ging seine Bedeutung durch die "Verkraftung" von Handel und Industrie, d. h. durch das Aufkommen des Haus- zu-Haus-Verkehrs mittels Lastkraftwagen, noch schneller auf - Null zurück. Reine Güterzüge fuhren auf der Lichtenberger Strecke schon viele Jahre nicht mehr, und das wenige Expreßgut, das der Bahn noch zur Beförderung überlassen wurde, lief über die größeren Bahnhöfe in Lebenstedt oder Salzgitter-Bad.

Als das seit Jahren fällige Ende nicht nur des Lichtenberger Bahnhofes, sondern der ganzen Strecke nach Derneburg mit Ablauf des Winterfahrplanes 1983/84 herankam, gab es nur noch die Frage, ob die Schienen als Museumsbahn für gelegentliche Nostalgiefahrten, und das Bahnhofsgebäude als Zeuge eines vergangenen Zeitalters erhalten bleiben sollten, oder ob Schweißbrenner und Planierraupe vorzuziehen waren. Die Entscheidung war den Fachleuten von Anfang an klar, nur konnten sie den kleinen, aber lautstarken Anteil der Romantiker in der Bevölkerung durch bloßes Absingen des beliebten Gassenhauers "Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?" nicht zur Aufgabe bringen. Da kam - wie im antiken Theater der Deus ex machina die schon jahrelang schwelende Diskussion über den Trassenverlauf der Autobahn A 39 mit ins Spiel. Flinke Rechner ermittelten, daß Bahntrasse und Bahnhof einem kostengünstigen Verlauf der Autobahn im Wege seien, und daß der Autobahnbau durch die Beseitigung der Bahnanlagen abgekürzt werden könne.

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Das Ende

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Das Bild zeigt die Abfertigung des Zug im Bahnhof von Salzgitter-Lichtenberg durch den Fahrsdienstleiter Horst Splitt.
Der letzte fahrplanmäßige Zug in Lichtenberg wurde am 1. Juni 1984 vom letzten in Lichtenberg amtierenden Fahrdienstleiter Städler abgefertigt.


Wie eingangs erwähnt, wurden die Gleise des Streckenabschnittes Lebenstedt - Derneburg demontiert, und auch der Bahnhof fiel im Jahre 1985, 99 Jahre nach seiner Errichtung, der Spitzhacke anheim. Dabei war das Gebäude durchaus bemerkenswert und kennzeichnend für den Stil der Bahnhöfe von Sekundärbahnen im Deutschen Reich. So ist es auch nicht verwunderlich, daß es im Maßstab 1:87 als Vorbild für Modelleisenbahnen diente und noch dient. Ist dem Bahnhof als Ganzes somit wenigstens für einige Zeit - ein Denkmal im verkleinerten Format gesetzt, ging es dem Stationsschild besser. Es steht jetzt oben im Walde vor dem Parkplatz der Burgberggaststätte und kündet hier, wo niemals Eisenbahnräder hinrollen konnten, von der verschwundenen Ära. Je nach Stimmung mögen dem Betrachter zwei Zitate bedeutender deutscher Dichter dabei einfallen, ein hehres von Uhland aus "Des Sängers Fluch": "Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundener Pracht; auch diese schon geborsten, kann stürzen über Nacht." Oder ein zynisches in Anlehnung an Morgenstern: "Das Schild jedoch steht stumm mit Lettern ohne was drumrum; ein Anblick scheußlich und gemein, drum zieht man es auch demnächst ein.
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